MTB Sport News Mai 2021 33 - www.mtb-sport.de - die Mountainbike Seite im Netz!

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Steffi Marth und Nathalie Schneitter in Yunnan / China

China ist ein geheimnisvoller, beinahe rätselhafter Ort. Als wirtschaftliche und technologische Großmacht strebt China nach Einfluss in der Weltpolitik und sogar dem Weltraum. Intern herrscht ein semi-kommunistischer Überwachungsstaat. Aus dem bevölkerungsreichsten Land der Erde dringt nicht viel nach aussen und es kommt auch nicht viel rein. Statistisch ist knapp jeder fünfte Mensch ein Chinese. Das Land fast so groß wie ganz Europa. Gigantische Dimensionen. Topografisch kann man den Südwesten Chinas mit dem Alpenraum für Deutschland vergleichen: Es gibt Berge. Nur herrscht auch dort die Superlative - Das Himalaya Gebirge.

Ich bin Winter-Flüchtling und habe es gern wohlig warm. Sobald hier die ersten Schneeflocken fallen, steige ich in den Flieger Richtung Süden. Stolz bin ich darauf nicht. Aber Kälte finde ich furchtbar. 1953 hat Edmund Hillary und Tenzing Norgay den Mount Everest in Baumwollschlüpfer erstbestiegen und ich mache mir wegen Camping über 3.000m im Dezember Pippi in meine hightech-Merinowolle Unterhose. Ja, wir wollen tatsächlich im Winter in die Chinesischen Berge und ja, wir wollen auch Zelten! So starten wir in die Provinz Yunnan, um auf unseren Bikes das sinotibetanische Hochland zu erkunden.

Steffi hat das Video hier hochgeladen:  https://youtu.be/odO-utVsoyE

Das chinesische Visum zu bekommen ist die erste Hürde, an der wir fast peinlich gescheitert wären. Unverschämt teuer war es auch noch. Mir als „Organisator“ und „Kalkulator" wird ganz schlecht von dem holprigen Start. Ich hatte die Reiseplanung komplett in die Hände von Frank gelegt. Ein in China lebender Holländer und unser Touranbieter. Am Flughafen Peking angekommen realisieren wir, welch großes Abenteuer jetzt vor uns liegt. Fotograf Marco, Filmer Alex, meine Schweizer Team Kollegin Nathalie Schneitter und ich sind uns alle ziemlich fremd in einem noch fremderen Land. Welche Reiseroute, Flüge und Autofahrten wir antreten werden, ist ungewiss. Bei der Hektik mit organisieren, packen, Visum, Check-In etc. habe ich total den Überblick verloren.

Kunming ist die Hauptstadt der Provinz Yunnan. Vier Flugstunden süd-westlich von Peking startet die Reise in einem Taxi, dessen Fahrer mit unserem Fahrradgepäck überfordert ist. Wir müssen unsere Bikes zurücklassen, um mit dem Zug weiter zu reisen. Überall sind blinkende Schriftzeichen, Lärm und Menschenmassen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu vertrauen, dass unser Tourguide Frank das Chaos aus der Ferne im Griff hat.

Wir wachen in einem kleinen chinesischen Hotel ausserhalb der Großstadt Dali auf. Erleichtert stellen wir fest, dass unsere Bike Boxen schon im Hof stehen, als wir morgens die Gardinen unsere Zimmers beiseite schieben. Es ist sonnig aber kalt. Unsere Heizdecke hat uns in dem sonst komplett ungeheiztem Hotelzimmer einen warmen Tiefschlaf beschert. Auf dem Weg Richtung Berg besuchen wir ein kleines Dorf, wo niedliche ältere Damen in traditionellem Gewand Handwerk betreiben und sich um einen Tempel tummeln, an dem gerade ein Huhn blutig sein Lebensende fand. Wir sind mitten drin im Yunnan´schen Alltag. Kurz darauf stehen wir mit unseren Bikes auf dem Bergkamm und blicken in die unendliche Ferne. Wir lassen uns in die erste Vertikale der Reise fallen und genießen den Beginn eines berauschenden Abenteuers.

Dahua ist unser Fahrer für diese Woche und da sein englisch nur minimal besser als unser Chinesisch ist, verstehen wir nicht ganz wo es hingeht. Ich versuche weiterhin zu vertrauen, entgegen meines normalen Kontrollwahns. Camping stand auf den Stichpunkten von Frank. Die Sonne ist schon untergegangen, als Dahua von der Bundesstraße in ein dunkles Labyrinth von kleinen Seitenstrassen abbiegt. Es geht schon länger bergauf. Auf 2.600m Höhe stoppen wir. Ein großer blonder Typ mit Klocks an den Füßen und Stirnlampe am Kopf winkt uns zu - es gibt diesen ominösen Frank also wirklich. Kurze Entspannung. Frank sagt, wir dürfen ab hier nur noch kleines Camping Gepäck dabeihaben. Der in Tetrismanier schön eingeräumter Kofferraum verteilt sich blitzartig auf der dunklen Strasse. Was nimmt man mit für zwei Tage Biken und zelten im bitterkalten Niemandsland? Merino lautet mein Joker. Er funzelt uns den Weg durchs Gestrüpp.

Ein paar Minuten später taucht unser kleines Zeltlager auf. Frank hat in seiner Campingküche typisch chinesisch für uns gekocht. Hatte ich schon erwähnt, dass Google,  Whatsapp, Facebook, Instagram und co. in China nicht funktionieren? Normalerweise freue ich mich auf Abendessen aber mir ist ganz übel bei dem Gedanken, dass wir jetzt nicht mehr nur vom Internet, sondern auch von jeglicher Zivilisation abgeschnitten sind. Ich sorge mich, ob unser Camping Equipment für Minusgrade geeignet ist. Die Freiheit irgendwo im Chinesischen Niemandsland total autark zu sein, fühlt sich jedoch angenehm spannend an.

Die Nacht ist unangenehm aber ich erfriere nicht. Am nächsten Morgen haben die Bikes eine Frostschicht auf ihrem baby-blauen Rahmen. Nun reitet auch unsere Maultier-Familie ein, die uns begleiten wird. Es geht den ganzen Tag bergauf durch große Felder, über enge Wege, teilweise sehr steil. Immer wieder treffen wir Bauern mit Maultieren, Schafen, Ziegen bis wir im mongolisch anmutenden Hochland ankommen. Die Weite hier auf 3300m Höhe ist atemberaubend. Wir überqueren ein paar kleine Pässe bis wir kurz vor der Dunkelheit an unserem zweiten Camp ankommen. Nathalie und ich schleichen in die winzige Hütte unserer Maultier-Familie und schauen dem weiblichen Familienoberhaupt beim Essen machen zu. Faszinierend mit welcher Ruhe, Routine und Präzision sie aus irgendetwas fleischigem, Zwiebeln und Gewürzen in vier vergammelten Töpfen über offenem Holzfeuer ein Essen zaubert. Wir genießen die Wärme aber sterben fast an einer Stickstoffvergiftung in dieser Zwei-Quadratmeter-Hütte. Später heizen wir unsere Füße nochmal über dem Bunsenbrenner, putzen kollektiv die Zähne und lachen herzlich bevor wir in unsere Zelte krabbeln. Meine Angst vor dem ungewissen Neuen ist von der Höhenluft wie weggepustet. Die Nacht ist enorm unbequem und natürlich noch kälter, aber die Endorphine regeln das. Ich liebe dieses Freiheitsgefühl hier oben. Wieviele Menschen dürfen so etwas wohl jemals erleben?

Am nächsten Morgen strahlt uns die Sonne an, als wir den vereisten Reißverschluss des Zeltes öffnen. Die Bikes haben eine noch dickere Eisschicht auf ihrem Carbongestänge. Unsere Körper fühlen sich steif an. Nathalie und ich fragen uns, ob das die Kälte oder das Alter ist aber zum Philosophieren bleibt keine Zeit. Wir packen schnell zusammen, denn auf uns wartet eine hart erarbeitete Abfahrt. Über der weiten Hochebene weht ein eisiger Wind. Wir finden hier und da ein paar coole Freeride-Linien, wo vorher wahrscheinlich noch nie ein MTB-Reifen den Boden berührt hat. Ein einzigartiges Gefühl. Die letzten Kilometer der Abfahrt führen durch einen überwachsener Spaß-Tunnel, gespickt mit natürlich gewachsenen, perfekten Kurven.

Wir reisen weiter nach Shaxi, wo mit wunderschön angelegten kleinen Brunnen, Teichen, Brücken und Innenhöfen eine chinesische Bilderbuch-Altstadt auf uns wartet. Auf de lokalen Markt werden wir von Kuriositäten überströmt: hunderte Pilzsorten, fremde Gerüche, lautes Gegacker und einem Outdoor Zahnarzt, der auf der Straße Zähne zieht. Wir besuchen einen Tempel in Shaxi´s Hochland, bei welchem Frank einige religiöse Hintergründe erklärt. Ich fühle mich wie in der letzten Doppelstunde Geschichte vor den Sommerferien. Nathalie und ich denken nur an eins: wir wollen heizen! Von diesem Tempelberg geht ein Trail ab und den wollen wir jetzt sofort runter knattern. Ich glaube nicht, dass schon viele Mountainbiker hier waren. Die Abfahrt mit ihren vielen steilen Steinpassagen hält ihr Versprechen.

In unserer vollgepackte Streichholzschachtel von Auto geht es weiter Richtung Norden. 6Uhr morgens stoppen wir auf 4.292m Höhe. Die buddhistischen Wimpelfahnen zappeln im eisigen Wind. Die Sonne geht erst in einer Stunde auf. Nun weiß ich auch, wie beklemmend sich dünne Luft anfühlt, muss kurz noch mal an die Mount Everest Erstbesteigung denken und schmunzle. Ich habe mich noch nie so weit weg und gleichzeitig in meiner Mitte gefühlt. Als die Sonne sich dann endlich über die hohen Berge kämpft, wird es unendlich episch.

Wir fahren weiter Richtung Tibet in die auf 3.500m gelegene Stadt Deqin, welche vor der ganzjährig schneebedeckten Meili-Bergkette steht. Hier sind wir kurz vor dem Himalaya Gebirge. Verzierte buddhistische Stupas, gold verzierte Tore, weiße Öfen aus denen Rauch aufsteigt - hier und da drehen wir an einer Gebetsmühle; natürlich im Uhrzeigersinn. Unser Karma-Konto wächst. Das Biken durch einen mit tausenden Gebetsfahnen dekorierten Wald, verbuche ich als weiteres unvergessliches Erlebnis auf meinem schon randvollen biologischen Speicher. Plötzlich reißt mich eine dieser Fahnen-Ketten abrupt vom Bike. Es sieht zwar schön aus aber praktisch sind die Wimpelketten im Wald nicht.

Am nächsten Tag fahren wir am längsten Fluss Asiens entlang, dem mächtigen Jangtse, in das südlich gelegene Shangri-La, wo uns Dahua zu einer typisch tibetischen Familie führt. Er kennt das Familienoberhaupt aber kann sich kaum mit ihm verständigen, denn sie sprechen eine komplett andere Sprache. Es gibt übrigens zirka 56 Minderheiten in China und Yunnan beheimatet 27 davon, also fast die Hälfte. Wir sitzen praktisch mitten drin in der größten ethnischen Diversität Chinas. Das Mittagessen bei der Familie ist spannend. Uns wird typischer Yak-Tee serviert— eine Mischung aus Tee mit Yak-Butter und Salz— eins gewöhnungsbedürftiges Getränk. Wir haben schon einige Yak Rinder auf unserer Reise gesehen und uns gewünscht wir hätten deren wärmendes, mehrschichtiges Fell. Jetzt müssen wir den Yoghurt ihrer Milch probieren und so kulinarisch wertvoll wie das auch klingt - ekelhaft ist eine Untertreibung. Er schmeckt wie 5 Monate über dem Verfallsdatum aber ist sicher top für unsere Verdauung. Aus Höflichkeit quäle ich mir das miese Zeug herunter und verziehe dabei keine Miene. Das nach nichts-schmeckende Reisgebäck muss dann leider doch in meiner Jackentasche verschwinden.  

Später besuchen wir einen weiteren Tempel, welcher als buddhistisches Kloster dient. Wir schlendern zirka 200 Treppen hinauf zu den majestätischen Hauptbauten. Bisher hatte ich nicht viel Kontakt mit Buddhismus aber im Vergleich zu unseren, zu Hause meist verbreiteten Religionen, ist der Buddhismus farbenfroher und scheint irgendwie glücklicher. Zumindest kommt das so rüber, als wir die Mönch-Jünglinge musizieren und tanzen sehen.

Unsere letzte Destination ist Lijiang. Hier werden wir zum ersten Mal auf unserer Reise ganze zwei Nächte im selben Bett schlafen, welch Luxus. Am letzten Morgen betreten wir einen sehr urigen Tempel, untouristisch und friedlich. Als wir unsere Bikes durch den Innenhof schieben, macht ein Mönch gerade die Gebetskammer auf und begrüßt mit trommeln und rasseln den Tag, die Götter, den Dalai Lama und was auch immer.

Wir biegen in den Trail ein und schalten sofort in den Vollgas-Modus. Der Trail macht Laune, denn hier wurden erstmals Schippe und Harke angelegt. Wir schwingen unsere Bikes durch die Anliegerkurven, lassen unsere Hinterräder auf Tannennadeln ausbrechen. Viele Bodenwellen, ausgewaschene Rinnen sowie kleine Drops zaubern uns das fetteste Lächeln ins Gesicht. Wir verabschieden uns standesgemäßer von unserem MTB Trip im fremden aber gar nicht mehr so rätselhaften China.

Unser Winter-Bike-Urlaub in China war für mich eine wertvolle Erfahrung. Yunnan ist bunt und kulturell sowie kulinarisch exotisch. Die unberührte Natur ist ein krasser Kontrast zu dem Bild der Weltmacht China mit seiner Industrie und den versmogten Megacities. Unser kleines Bike Abenteuer im unendlich großen China: Wow! Vor allem habe ich hier etwas über mich gelernt: Ich kann auch einfach mal laufen gelassen. So wie wir´s beim Biken auch machen. Erst hatte ich Sorgen unsere Räder würden nicht ankommen, wir wären schlecht ausgestattet und ich könnte erfrieren beim Campen. Aber mit jedem Tag verzogen sich diese drückenden Gedanken und umso mehr wir von Yunnan gesehen haben, umso größer wurde die Neugier und umso kleiner die gedanklichen Schranken. „Ein großer Teil der Sorgen besteht aus unbegründeter Furcht.“ (Sartre). Der deutsche Winter macht mir jetzt auf alle Fälle keine Angst mehr.

  
Steffi Marth´s Mission ist jede Sekunde im Leben voll auszunutzen. Die Profi Mountainbikerin aus der Nähe von Dresden liebt herausfordernde Abenteuer, die sie in Deutschland, den Alpen und dem Rest auf zwei Rädern erlebt. Ihre Karriere auf zwei Rädern begann als zwölfjährige auf dem BMX und ging über MTB Fourcross langsam zu größeren Bergen und rasantem Downhill. Zwei WM Medaillen und 6 Deutsche Meistertitel gehören zu ihren größten Erfolgen. Seit vielen Jahren gibt sie ihre Erfahrungen in Fahrtechnik Kursen weiter und liebt es ihren Enthusiasmus für Fahrräder mit anderen zu teilen. Für Steffi ist das Leben einfach nur ein großes „Endless Adventure“.

Nathalie Schneitter startete ihre internationale Mountainbike-Karriere im Jahr 2004 mit dem Gewinn des Cross-Country-Weltmeistertitels bei den Juniorinnen. Seither ist sie Vollgas auf den Rennstrecken dieser Welt unterwegs. In Jahr 2008 qualifizierte sie sich für die Olympischen Spiele in Peking und 2010 sicherte sie sich den Heimsieg beim Cross-Country-Weltcup in Champéry. Vollgas gibt Nathalie auch neben der Rennstrecke: Sie lacht viel, ist ein bisschen verrückt und tanzt in jeder möglichen Situation. Seit Herbst 2016 ist sie Messeverantwortliche im Organisationsteam der Bike Days in Solothurn und der Cycle Week in Zürich und spricht den deutschen Co-Kommentar des UCI MTB XC Worldcups auf Red Bull TV.

Fotos: Marco Fischer
Text: Steffi Marth
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